Erica Kalika Blöchlinger

 

Das verlorene Buch der Natur

Es ist noch gar nicht so lange her, dass der barmherzige weisse Mann in der schwarzen Soutane mit zum Himmel gewandtem Auge betenderweise auf einem Esel in die afrikanische Savanne hinaus ritt, wie einst Jesus nach Jerusalem, um dem schwarzen Mann mit der schwarzen Seele das lichte Wort Gottes zu bringen und seinen heidnischen Geist zum Wahren Glauben zu bekehren. Zu jener Zeit lebten die Ureinwohner der ostafrikanischen Steppen noch ihre Naturreligion, unberuehrt von Islam oder Christentum.

 

Ich hatte das seltene und traurige Glueck, als etwa Sechsjaehrige dabeizusein und soweit es mein kindliches Vokabular zuliess als Dolmetscherin zu fungieren:

Jambo Bwana, wie geht es deinen Rindern und Kindern? ruft der Stammesaelteste traditionsgemaess seinen Gruss dem weissen Mann zu, als dieser umstaendlich vom Esel steigt und sich den Steppenstaub von der Soutane klopft.

Jambo Msee, entgegnet der Weisse, ich habe weder Kinder noch Rinder. Ich bin ein Mann Gottes und komme, um euch Gottes Wort zu bringen, und mit einer frommen Geste streckt er dem Schwarzen eine Bibel vor die Nase.

Was bringst du denn da fuer einen schwarzen Stein; oder ist es ein Stueck Ebenholz? will der aelteste der Alten wissen.

Das ist kein Stein und kein Holz; das ist ein Buch, erwidert der Weisse mit einem holden Laecheln.

Ein Buch, was ist das?

Ein Buch ist ...., ist....., well, dieses Buch ist die Heilige Schrift; es enthaelt das Wort Gottes, stammelt der Gefragte etwas verlegen.

Das Wort Gottes? Wir lauschen, doch wir hoeren es nicht.

Ihr koennt das Wort Gottes nicht hoeren, ihr koennt es nur lesen, entgegnet der Weisse geduldig.

Wir koennen nicht lesen, rufen die Herbeigelaufenen, die neugierig aus ihren Huetten kommen, um den weissen Mann mit dem schwarzen Stein zu bestaunen.

Weil ihr nicht lesen koennt, bauen wir Schulen fuer euch, damit ihr lernen koennt, Gottes Wort zu lesen, verkuendet der Gottesmann mit einem frommen Augenaufschlag zum Himmel.

Um Gottes Wort zu hoeren, brauchen wir nicht lesen zu koennen. Wir hoeren Mungus Wort in den Vulkanen und im Blitz des Himmels, im Wasser, in der Luft und im Donner. Wir hoeren seine Stimme im Ruf unserer Rinder, im Gesang der Voegel, im Geheul der Hyaenen, im Bruellen der Loewen und im Trompeten der Elefanten, sagt der Schwarze mit wuerdevollem Nachdruck, und verbeugt sich vor der Natur.

Das ist nicht Gottes Wort, weiss der Gottesmann mit einem verzeihenden Laecheln zu erwidern, das ist die Stimme der Natur.

Sind Gottes Wort und die Stimme der Natur nicht das gleiche? will der aelteste Sohn des Stammesaeltesten wissen.

Nein, seufzt der weisse Mann in der schwarzen Soutane.

Ist denn dein Mungu so klein, dass er in diese kleine Kiste hineinpasst und dort redet? fragt der zweitaelteste Sohn.

Gott redet nicht in dieser Kiste; in diesem Buch steht Gottes Wort geschrieben, entgegnet der Fromme feierlich.

Wir koennen nicht schreiben, murmeln die Maenner im Chor, denn mittlerweile sind alle auf dem Dorfplatz versammelt und hocken im Kreis um den weissen Gottesmann, waehrend die Frauen mit ihren Kindern etwas abseits stehen.

Eben weil ihr nicht lesen und schreiben koennt, bauen wir ja Schulen fuer euch. Bis ihr Gottes Wort selber lesen koennt, muesst ihr eben mir zuhoeren, denn ich kenne sein Wort.

Wenn wir dir zuhoeren, dann hoeren wir nicht Mungu zu, meint der Alte, und spuckt veraechtlich vor die Fuesse des Weissen.

Natuerlich ist auch meine Stimme nur die Stimme eines Menschen. Aber mein Mund spricht das Wort Gottes, entgegnet der Weisse, die Demuetigung grosszuegig uebersehend.

Das sagten wir doch vorhin auch, dass unsere Rinder, die Erde, der Wind und das Feuer Gottes Wort sprechen, erwidert der Stammesaelteste schlagfertig.

Dem Gottesmann trieft der Schweiss in Stroemen vom Gesicht und tropft auf seine Bibel. Unbeholfen steht er auf,

streckt seine steifen Beine und lueftet seine Soutane. Dabei verfaengt sich sein uebergrosses Kruzifix im weiten Aermel. Er zieht das Kreuz heraus und streckt es erleichtert ueber seinen rettenden Einfall zum Himmel mit den Worten: Gott ist fuer eure Suenden am Kreuz gestorben!

Ist dein Mungu tot? Wie kann dein toter Mungu in diesem Buch reden? Und was ist Suende?

Suende ist, dass ihr nicht an Gott glaubt, sondern an eure Goetter.

Suende ist, dass ihr eure Geschlechtsteile nicht verdeckt und nackt in der Savanne herumgeht.

Suende ist, dass ihr mehr als eine Frau habt.

Suende ist .........

Suende ist alles, was Gott nicht will.

Gott will nicht, dass ihr das Wasser und das Feuer anbetet. Gott will, das ihr ihn anbetet.

Du sagtest doch eben, dein Mungu sei fuer unsere Suenden gestorben. Wann hat er denn das gesagt? Bevor er gestorben ist?, fragt der Schwarze nachdenklich.

Gott ist nicht tot. Nur sein Sohn ist tot. Aber auch Gottes Sohn lebt, denn er ist auferstanden, entgegnet der Gottesmann, froh darueber, fuer das tiefe Mysterium so schlichte Worte gefunden zu haben.

O, dein Mungu hat einen Sohn, der gestorben ist und jetzt wieder lebt? Wo lebt er denn? Warum ist er nicht zu uns gekommen?

Weil er mit Gott im Himmel wohnt, sagt der Mann Gottes mit Pathos, schlaegt seine Augen zum Himmel auf und bekreuzigt sich.

Dann habt ihr also auch zwei Goetter im Himmel, wie wir?, schmunzelt der Alte zufrieden.

Wir haben nicht zwei Goetter im Himmel; es gibt nur einen Gott: Gott und sein Sohn sind eins.

Wir und unsere Soehne sind auch eins, und wenn wir sterben, leben wir auch in unseren Soehnen weiter.

Das ist nicht wie Gott und sein Sohn, betont der Gottesmann, und geraet etwas durcheinander....

 

Er verspricht, morgen wieder zu kommen, da er heute noch ein paar wietere Doerfer besuchen muss. Sein Bekehrungseifer scheint ungebrochen.

Als der Gottesmann am naechsten Tag wieder erscheint, stoesst er unverhofft auf seine Konkurrenz aus dem anderen missionierenden Lager. Er muss zuhoeren, wie der andere Gottesmann, der samt einem Uebersetzer im Automobil angereist ist, seinen Gott dem schwarzen Mann schmackhaft macht, waehrend er bunte Tuecher an die nackten Frauen verteilt.....

 

Wer das Rennen letztendlich gewonnen hat, vermag ich nicht zu sagen, da ich in meinem siebten Lebensjahr in eine Klosterschule in der zweihundert Meilen entfernten Hauptstadt des Nachbarlandes gesteckt werde, um Zucht und Ordnung und den Wahren Glauben zu lernen. Schliesslich war ich ja durch meinen Umgang mit den Primitiven total verwildert.

 

Wie ich meine schwarzen Freunde als Erwachsene wieder besuche, traue ich meinen Augen und Ohren nicht. Vergeblich suche ich in ihren Herzen die altvertraute Waerme und in ihren Augen das zuendende Feuer, das mich als Kind immer wieder in ihre Huetten zog, wo ich zum Schrecken meiner Eltern taeglich viele Stunden in Begleitung meiner Betreuerin verbrachte und das unbeschwerte Leben der einengenden Atmosphaere meines Elternhauses vorzog. Und jetzt?

Es kam zu keiner echten Begegnung. Ein stiller Vorwurf schien zwischen uns zu liegen. Stumpfe Augen starrten zum Boden oder in eine sinnlose Welt. Nicht wenige meiner alten Freunde waren alkoholisiert, andere schienen krank zu sein. Sie lagen apathisch vor ihren sauberen Huetten und warfen vorwurfsvoll ihre trueben Blicke auf mich. Es ist ihnen ergangen wie den Indianern und anderen naturverbundenen Volksstaemmen auf dieser Erde, die vom weissen Mann entwurzelt und in eine bodenlose Isolation gestuerzt wurden. Am liebsten waere ich vor Scham und Schmerz im Boden versunken.

Die Frauen trugen laecherliche westliche Kleider, die entweder viel zu weit oder viel zu eng ihre formvollendeten Koerper verunstalteten. Die Fuesse der Maenner waren in zu grosses oder zu kleines Schuhwerk eingezwaengt. Ihr einst stolzer und wiegender Gang war dahin. Statt im Buch der Natur zu lesen, sassen die Jungen nun in der Schule und lasen mit geknickten Koepfen das Wort Gottes, das fuer sie keinen Sinn macht. Schliesslich waren sie jetzt zivilisiert wie der weisse Mann, der den allgegenwaertigen Gott aus der Natur und aus den Herzen der Menschen herausdestilliert und zwischen zwei Buchdeckel eingeklemmt hat.

 

Mit abgrundtiefer Trauer im Herzen und zugeschnuerter Kehle verabschiedete ich mich wortlos von diesen Menschen, die einst meine besten Freunde und Lehrmeister waren.