Elisabeth Jucker

geboren 1954 in Schaffhausen, lebt in Wettingen im Kanton Aargau. Nach der Ausbildung zur Fotografin und verschiedenen Auslandaufenthalten arbeitete sie bis 1990 als Flight Attendant. Von 1991 bis 1994 wohnte sie in Schriesheim bei Heidelberg. Dort trat sie mit ihren Texten ein erstes Mal an die Oeffentlichkeit und publizierte in Anthologien, Zeitschriften und Zeitungen.

Elisabeth Jucker ist Mitglied des Netzwerks schreibender Frauen; der Raeuber 77, Literarisches Zentrum Rhein-Neckar, und des Deutschschweizer PEN.

e-mail: elbejucker@bluewin.ch

 

 

VEROEFFENTLICHUNGEN

Gestern brennt, Erzählung, edition 8, Zürich, Aug. 2000

Beiträge in Anthologien:

Liebe, was sonst?, Triga Verlag, Gelnhausen 1998

Lebensmelodie, Comenius Verlag, Hitzkirch 1998

Passagen, Magazin für Kunst und Literatur, Heidelberg 6.97

Passagen, Lyrik der deutschsprachigen Schweiz, Pro Lyrica 1997

Perforierte Wirklichkeiten, Ulysses-books, Kaiserslautern 1994

 

 

LESUNGEN

2. Juni 2000, 17.00 &endash; 18.30 Uhr, DamenDramenDramolette im Stadttheater Solothurn

Szenische Lesung neuer Theatertexte von fünf Autorinnen

 

 

SCHREIBWERKSTAETTEN

19. / 20. Mai 2000, Schreibwerkstatt in der Alten Hauptfeuerwache Mannheim, organisiert vom Literarischen Zentrum Rhein-Neckar, Leitung E. Jucker.

Infos: elbejucker@bluewin.ch

 

15. - 17. September 2000, Schreibwerkstatt des Netzwerks schreibender Frauen

Infos ab Juni: Fehler! Textmarke nicht definiert. oder Sekretariat des Netzwerks schreibender Frauen, Solothurnstr. 49, Postfach, 3322 Schoenbuehl, e-mail: netzfrau@netwings.ch

 

 

LESEPROBE

aus: Liebe, was sonst?

 

Sie geht durch die schmalen Gassen der Stadt. Bald ist Mittag. Sie hebt den Blick vom Kopfsteinpflaster und blinzelt ins Gegenlicht. Die Vorfruehlingssonne blendet. Menschengruppen umstroemen sie links und rechts, fuehren das Gespraech durch sie hindurch weiter und schliessen die Luecke, als waere sie nicht gewesen. Eine grosse Gestalt mit Pelzmuetze und Wollschal fängt ihren Blick, erinnert sie an Vergangenes. Die Gestalt bleibt stehen und wendet sich einem Schaufenster zu.

Grau ist er geworden, denkt sie, und lichtscheu, vermummt gegen die zarte Waerme der Vorfruehlingssonne. Eingepackt wie &endash; wie zum Schutz gegen die Zeit? Welche Zeit? Schleicht sie, rast sie, die Zeit, steht sie still? Entfernt sie die Menschen diametral voneinander? Ist er, der Mann, der Zeit vorausgeeilt, geflohen, und sie, die Frau, zurueck geblieben?

Ihr Schritt geht unbeirrt weiter. Sie laesst den vergreisten Mann hinter sich. Sein Bild weht ihr nach, holt sie ein, legt sich in ihren Weg. Entschlossen setzt sie Fuss vor Fuss aufs Kopfsteinpflaster, schreitet durch ihn hindurch weiter, schaut vorwaerts. Ihr Blick streift ueber Haeuserzeilen, steigt Treppen hoch, gleitet himmelwaerts zu den Zinnen und Regenrinnen, dort die zwei Fenster... Halt!, droehnt seine Stimme in ihrem Kopf. Sie bleibt stehen. Die Fassade zeigt beschwichtigendes, ruhiges Weiss. Drei Treppen hoch - oder waren es vier gewesen? Sie geht weiter. Irgendwann wird er ausgezogen sein, denkt sie.

Ob er sie erkannt haette? Sie wechselt die Zeichenmappe unter dem Arm und streicht sich das Haar zurueck. Du malst?, haette er ausgerufen, und falls er schon betrunken gewesen waere, haette er einen Pinselstrich durch die Luft geschleudert, die Arme ausgebreitet, und sie waere einen Schritt zurueck gewichen. Vielleicht auch zwei. Sie kannte seine furiose Art. So malte er, das waren seine Bewegungen, leidenschaftlich und verwegen.

Sie presst die Zeichenmappe fester an ihren Koerper und spuert die harte Kante in der Achselhoehle. Ihre Bleistiftskizzen verblassen. Die Schraffuren verflachen zu einem eintoenigen Grau. - Geh aus dir heraus, zeig, wer du bist!, flüstert seine Stimme in ihrem Kopf. Schau dich doch um, es gibt kein Grau. Du versteckst dich. Lass dich nicht erdrücken von den grellen Farben des Lebens. Schreie ihnen entgegen. Weiche dem Irrsinn der Welt nicht aus. Erschlage das klagende Rot mit der Gewalt der Liebe, das truegerische Blau mit der Intensitaet eines wolkenlosen Himmels, ueberstrahle das verfuehrende Goldgelb mit deiner inneren Sonne; sei nicht bescheiden, bleib nicht stumm, nicht kalt wie ein Fisch! Was sollen grau gestrichelte Haeuserfronten, erstarrte Giebel, gaehnende Fensterloecher? Das Leben ist bewegt, das Leben will erfunden sein.

Sie scheucht seine Stimme aus ihrem Kopf. Soll er die Welt erobern! Soll er kämpfen und toben, mit bunten Farben um sich werfen. Sie sieht ja, wohin es ihn gefuehrt hat. - Ich war nie wie du. Ich verabscheute deine Sucht nach Ekstase. Dein Wahnsinn erschoepfte mich. Das bisschen Verruecktheit, das in mir steckte, war dir zu duerftig. Du wolltest im Leben ertrinken, du wolltest wild um dich schlagend untergehen. Im Kampf hast du gespuert, dass es dich gibt. - Seit ich deinen Wahnsinn nicht mehr ertragen muss, liebe ich mein kleines bisschen Verruecktheit. Ich geniesse es, ab und zu einen Pinsel voll Farbe aufs Papier zu klatschen. Ich bin mir lebendig genug, seit du mich nicht mehr erdrueckst mit deinem Ueberschwang. Nein, ich bin nicht bunt und grell, wie du es warst. Ich liebe meinen kurzen, praezisen Strich. Lass mich in Ruhe, schweig endlich!

Sie bleibt noch einmal stehen, schaut zurueck, schaut hoch zu den zwei Fenstern und denkt an die vermummte Gestalt im Gegenlicht. Jetzt bleibt es still in ihr drin.