Jürg Kilchherr, www.juerglichherr.ch

Eigerweg 7

3177 Laupen

079 6669342


Freundschaft
Der Fisch kann im Wasser nicht ertrinken
Der Vogel kann in der Luft nicht versinken
Das Gold kann im Feuer nicht verderben
denn es empfängt die Klarheit
und seine leuchtenden Farben
Gott hat allen Kreaturen das Gegeben
dass sie mit der Natur leben
Wie könnte also ich meiner Natur widerstreben
Mechthild von Magdeburg
1210 -1285

Als Falkner darf ich den Zweifel nie an mich heranlassen. Wenn Astor die Flügel öffnet und sich gewaltig in die Luft schwingt, darf ich nicht denken, dass mein Falke nicht mehr zurückkehren könnte.
Wenn Adrian erwacht und seine Augen öffnet, sein Blick zum Fenster schweift, hinter dem die Luft, die Dächer, der Wasserfall und das Dorf Jaun liegen, und er sich dann fragt, warum er wegen seiner Verletzung kein Teil mehr davon ist, darf ich seinen Zweifel nicht teilen.

Beide gehören mir nicht. Sie dulden es nur, mit mir zusammen zu sein. Beide könnten sich von der Freiheit des Himmels verlocken lassen. Astor könnte die wirkliche Jagd den toten Mäusen in meinem Futtersack vorziehen und wegfliegen. Adrian könnte auf dem Weg zur Heilung seinen Schutzengel verlieren, könnte einem bösen Engel in die Hände fallen. Dann würde er sich umbringen, das hat er gesagt.
Über meinen beiden Freunden liegt mein Vertrauen. Wer vertraut, dem wird gegeben. Ich bin dankbar und vielleicht sogar ein bisschen demütig, weil ich mit Beiden eine rettende Handreichung einfach geschenkt bekommen habe. Mein Gesicht zeigt einen anderen Ausdruck, wenn ich spüre, wie der Falke oder Adrian mir helfen, den grössten Abstand in mir - die Ferne zu Gott - mir zu überbrücken helfen.
Astor ist weit oben auf dem Kappelboden gelandet. Faltet majestätisch die zwei Meter zwanzig Spannweite aufweisenden Flügel zusammen. Späht in die Tiefe zu mir. Sein Kopf bewegt sich ruckartig, die Bewegung hat etwas Hochmütiges.
Adrian faltet seine Hände über meinem Nacken, meine Kraft richtet seinen verletzten Körper vom Bett auf, trägt ihn zum Rollstuhl, lässt ihn sachte hineinfallen.
„Du Michel,“ sagt er, „ ich habe heute Nacht wieder was gespürt da unten“. Er packt seinen Bein fest zusammen,bewegt den Fuss.
„ Du kannst mich heute wieder an die Kirchweih nach Bulle mitnehmen. Ich bin wieder Mann.“
Wir lachen. Adrians Rücken richtet sich auf. Mensch wird Mann durch Mitmenschen.
Ich versuche den Augenkontakt zu Astor nicht zu verlieren, hebe den Arm mit meinem Falknerhandschuh. Astor auf der Hangspitze wendet sich ab. Ich beginne seinen Namen zu rufen. In meiner Stimme ist kein Befehl zu hören, keine Ungeduld - nur Erwartung seiner Rückkehr.
Adrian lag zwei Tage im Koma. Die Zeit verstrich im Raum zwischen der inneren Welt und der Wirklichkeit. Dazwischen ein Spielraum, in dem all das angesiedelt ist, was ich auch denke, wenn Astor sich ziert, vom Felsen herunterzufliegen. Die Angst vor dem Alleinsein.
In der scharfen Rechtskurve bei Charmey schoss Adrian frontal mit einem Audi zusammen. In seinem letzten Augenblick schaute er in den Abgrund zwischen dem Jetzt und dem Aus.
„Dort leben auch die Engel, das weiss ich erst jetzt“, sagte Adrian, „unterhalb der Sprachebene.“
„Dort lebt auch mein Falke.“
In Gefangenschaft bindet sich ein Falke nur an einen Menschen. In Freiheit nur an einen Partner, genau wie die Engel. Seelisch und leiblich bin ich mit dem Greifvogel und Adrian mit den Engeln eng verschlungen.
Ein heiliger Schauder, ein Jauchzen des Glücks überkommt mich, wenn ich meinen Freunden in die Augen schaue.
Es gibt Geheimnisse in mir, die weiss nur mein Falke.
Es gibt Geheimnisse in mir, die weiss nur Adrian.
Ich glaube, ich würde zerbrechen, wenn ich nicht wüsste, dass meine Geheimnisse von beiden nicht gut bewacht würden.
Ich opferte mich für Astor, passte mich seinem Instinkt an, fand wieder meinen Platz in der Natur.
Ich opferte mich für Adrian - den Rest werden ich und sein Schutzengel ihm geben, den wer geliebt wird , hat eine Seele. Seelen, die sich lieben sterben nie.


 

Die Verwechslung

 

Ich wünschte, er wäre weg.

 

Die Abendsonne warf den Schatten des Marokkaners auf den staubigen Lehmboden.

„Venez, Monsieur, venez, mon ami" rief dieser unter dem Balkon meines Hotelzimmers in die heisse Luft, die regungslos über Marrakesch lag. Nur der einsetzende Gesang vom Moscheturm erlöste mich von der Aufdringlichkeit des Einheimischen, der beim ersten „AALLAAHHH..............." von einem Moment auf den anderen verschwunden war.

In die plötzliche Stille der Straßen, im Innehalten allen menschlichen Tuns wusch ich mir den Schweiss von der Stirn, lies das Wasser über die geschwollenen Adern meiner Hände laufen und wußte nicht wie weiter.

Fortan würde jede Bewegung, jede Geste, jedes Wort darüber entscheiden, ob ich Opfer eines Verbrechens würde oder nur als einer von vielen betrogenen Touristen Marokko wieder verlassen würde. Dies war klar.

Ich riss die Vorhänge zu, lies mich auf das Bett fallen. Der Ventilator kreiste über mir, als mich die Müdigkeit überkam und die großen Geister mit Säbeln mich in die Tiefen des Schafes rissen.

 

Zwölf Stunden später sah ich wie in der Hotelhalle schleierverhüllte Frauen Pfefferminze tranken. Einen Geschmack, den ich als Parfumhersteller, liebte. Doch jetzt konnte mich dieser Geruch nicht beruhigen, den ich sah, wie der Portier, einen Bettler, der von draußen auf die Gäste im Foyer zeigte, fortschickte.

 

Jetzt war ich als Schweizer stadtbekannt, den die Bettler hatten meine Anwesenheit in Windeseile untereinander ausgetauscht. Warum nur ich?

 

Trotzdem ging ich aus.

 

Die Schlage tanzte züngelnd zu den Flötenklängen, ein Affe führte eine Artistiknummer vor, dem einäugigen, fabulierenden Mann lauschte die Menge auf dem Marktplatz zu. Ich drückte meine Tasche fest an mich, roch die Orangen, Dadeln, die getrockneten Wurzeln, das Leder.

„Monsieur?"

„Ja, ah, oui?"

Und schon stand ich maskenlos da. Die schwarzen Augen des Jungen neben mir hypnosierten mich. Sein ebenmäßiger brauner Teint und das makellose Gesicht ebenso.

 

Ich sank in meiner Einsamkeit zusammen, sträubte mich nicht gegen die Hand, die mich packte und wegzog vom offen Marktplatz zum Teppichhändler Ali. Hier traf ich auch den aufdringlichen Marokkaner von gestern Nachmittag wieder.

 

Die Flammen der Oellampen loderten spärlich, als ich eintrat und gleich gezwungen wurde, einen Vortrag über die Farben, die Formen, die eine unbekannte Geschichte erzählten, anzuhören.

Trotzdem wollte ich nichts kaufen.

 

Plötzlich traten aus allen Winkeln des Raumes dunkle Männer mit Bärten. Sie bliesen einige Flammen aus. Umkreisten mich. Die Angst riss mir die Augen auf. Der Mund blieb stumm. Sekunden der Angst zu den Taktschritten der Wölfe.

Mein Gesicht suchte den Himmel, verzweifelte im Dunkel bis eine alte Stimme aus einem Nebenzimmer endgültig über mein Schicksal entschied und reif „non!".

 

Der Junge packte mich sofort an den Ärmeln, die Ladentüre mit dem großen Schloß öffnete sich. Draußen blies uns der Wind Saharasand in die Augen. Während ich hustete, wickelte der Junge in Windeseile seinen Turban ums Gesicht. Packte mich erneut an der Hand. Immer wieder stieß er mich durch die Gassen der Labyrinthes der Medina. Vor einem Brunnen begegneten uns zwei kreuztragende Geistliche. Ich blieb stehen. Der Junge blickte mich haßerfüllt an. Ich tötete mit meiner letzten Kraft den Blick dieses Diebes, schmiß einen Dinar auf den Boden und lief und lief und lief davon.

 

Kurz vor Mitternacht überreichte mir ein Dienstbote im Hotel einen schlechtzulesenden Breif. In ihm stand: „Seit Jahren hassen wir die Franzosen. Jetzt im Krieg mit Kuwait noch mehr. Mein Junge meinte, Sie seinen einer. Die Verwechslung tut mir leid. Er hat heute gelernt, niemanden nach seinem Aussehen zu verurteilen. Wir müssen lernen, unseren Zorn zu zügeln. Ali Kuri, Teppichhändler, Marrakesch."

 

Als der Brief Stunden später im Lavabo meines Hotelbadezimmers zwischen meinen Fingern brannte, erinnerte ich mich an einen Traum mit Geiern von letzter Nacht. Ich wußte plötzlich, was ich angeschaut, aber nicht gesehen hatte, war heute eingetroffen. Ich war Opfer der politischen Umstände geworden, obwohl ich die Möglichkeit gehabt hätte, dies zu verhindern. Hätte ich nur den Oeffenbarungsgedanken des Traumes von letzter Nacht zu entschlüsseln gewußt.

 

Die Karten des Lebens für das Spiel des Schicksals am nächsten Tag legt die Nacht.

Hab ich das nicht schon immer gewußt?

 

 

Jürg Kilchherr aus dem Buch „Mann und Sein"

(Eigenverlag, 50 Seiten, Fr. 25.--)